Der Orkan "Lothar" - 26.12.1999
Aufgrund meines Urlaubes war ich zu Weihnachten 1999 kaum mit der Wetterlage vertraut. Ich fuhr am ersten Weihnachtsfeiertag von Illerrieden bei Ulm Richtung Schwäbisch Gmünd zu meinen Großeltern, als ich über der Schwäbischen Alb einen Schneeschauer traf. Wirbelnde dichte Flocken minderten die Sicht oft so stark, dass man nur noch wenig von dem erkennen konnte, was die Landschaft der Albhochfläche bietet. Im Remstal angekommen, war es wieder aufgeklart und mild. Von Lothar, dem intensivem Orkanereignis, das am kommenden zweiten Weihnachtsfeiertag über Baden-Württemberg hinwegfegte, war noch wenig zu spüren. Gegen 0 Uhr UTC bildete sich vor der Bretagne in der rasanten Westströmung eine Welle, die man in der folgenden Wetterkarte bereits deutlich erkennen kann:
Genau betrachtet war gegen 0 UTC bereits eine abgeschlossene Isobare vor der Bretagne auszumachen. Gleichzeitig begann über Frankreich, der Druck rapide zu fallen. Unvergesslich ist der Himmelsblick am morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages. Ich stand im Garten bei meiner Oma und blickte Richtung Rechberg und den Hohenstaufen. Diese Berge, sie gehören zum Fuße der Ostalb, liegen südwestlich meines Standortes. Klar und stechend scharf war die Sicht auf die Berge. Für mich bestand kein Zweifel, dass es eine außergewöhnliche Wettersituation war, die bevorstand. Quirlende Fetzen flogen schnell von Südosten über mich hinweg, während einige Bänke aus Stratocumuli eine klare Südrichtung hatten. Im mittelhohen Stockwerk gab es Altocumuli, die bereits deutlich aus Südwesten herandrifteten. Ein Wolkenspiel zeigte sich an diesem Vormittag, wie man es selten sieht. Ich war an diesem Tag ohne Netzzugang, so blieb mir lediglich der Blick auf das Dosenbarometer, wo der Zeiger unaufhaltsam die 980 hPa-Marke unterschritt. Dies war die synoptische Situation zwei Stunden vor dem Beginn meines Aufenthaltes im Freien. Der Kern von Lothar hatte inzwischen über Nordfrankreich 965 Hpa unterschritten und raste auf Deutschland zu. Ich stand derweil bis etwa 11 Uhr draußen und beobachtete das Zunehmen des Windes. Inzwischen vernahm ich ein Pfeifen und Heulen, das anfangs noch recht unterschwellig aus großen Höhen zu mir drang und sich unter die Geräusche der sich umherbewegenden winterlichen Aste der Bäume mischte. Als es zu regnen begann, zogen im weiter zunehmenden Südostwind immer wildere Fetzen über den Himmel. Der Geruch von Weihnachtsmahlzeiten kam aus vielen Fenstern in die aufgewühlte Natur und wurde mit ihr eins. Die Situation zur Mittagszeit. Inzwischen war die Weihnachtsente nicht mehr der geplante Mittelpunkt des Geschehens, sondern der Höhenpunkt des Orkans. Zu sechst waren wir fasziniert, aber auch beunruhigt, was sich zu dieser Zeit abspielte. Tannen bogen sich wie aus Gummi schräg in den Wind, leere Wassereimer, Äste und sonstige kleinere Gegenstände flogen unorientiert durch die inzwischen zweifellos in Saus und Braus waltende Luft. Was ist mit der Weihnachtsente ? Einige Stücke davon hatte ich gegessen, doch bald ging das Licht aus und die Stromversorgung war für kurze Zeit weg. Als die Fenster bedenklich knarrten, konnte einem gar ein Schauer über den Rücken laufen. Wieder stand die Hälfte von uns am Fenster, als ein junger Baum bereits den Kontakt zu seinem Wurzelwerk verloren hatte. Lothar zog zur Mittagszeit über Mitteldeutschland ostwärts. Ein Heulen und Dröhnen war während des aufregendesten Mittagsmahls, das man sich vorstellen kann, durchgehend Gast in den Wohnstuben Süddeutschlands. Der Luftdruckverlauf der Wetterstation Karlsruhe zeigt die Einzigartigkeit dieses wilden und gefährlichen Ereignisses vom 26.12.1999. Die Druckkurve hat schier den Charakter von Orkantiefdurchgängen auf Nordseeinseln oder der Antarktis: Das Orkanfeld hatte genau südseitig des Tiefkerns seine größte Kraft. Selbst in der Warmluft waren die Böen außerordentlich heftig. Die intensivsten und heftigsten Böen traten, wie so oft beim Durchgang der Kaltfront auf, die am späten Vormittag den Rhein, später Württemberg überquerte. Nachmittags ließ Lothar von uns ab und gab den tiefblauen Himmel frei. Jeder war wohl wie selten zuvor beeindruckt, jedoch auch beunruhigt durch dieses Orkanereignis, das leider Sach- und Personenschäden forderte. Als am Abend die Atmosphäre immer mehr zur Ruhe kam, erinnerte uns in Waldstetten (bei Schwäbisch Gmünd) an das, was sich zuvor abspielte, nur noch ein Blick in die Gärten, welche ein Bild der Unordnung boten. Eimer, Äste, gar einzelne Dachziegel und sonstige Gegenstände lagen umher. Falls ich bei den Bildern, deren Herkunft ich teilweise nicht kenne, gegen Copyright-Rechte verstoßen haben sollte, bitte melden, sorry dafür. Jedenfalls fand ich abends, als ich in Stuttgart-Sommerrain ankam, meinen Balkon in absolutem Chaos vor. Die Plane wurde das erste und bisher einzige Mal völlig aus ihrer Verankerung gerissen und einige Gegenstände lagen verteilt unten am Erdboden. Meine Betrachtung dieses Ereignisses ist sicher subjektiv und steht in keiner Verhältnismäßigkeit zu den Erlebnissen von Menschen, die durch Lothar schwere Schäden erlitten haben, in welcher Form auch immer. Fazit dieses Weihnachtstages: Hinreißend beeindruckend, gefährlich, wild tosend, Natur in der vollen Ausprägung ihrer Gewalt.
Marco Puckert, letzte Änderung 2.12.2002
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